"Sich mit jedem Tact mehr zu verwundern, und doch mehr zu Haus zu fühlen"
Zur Re-Internationalisierung der Symphonik im Leipziger Konzertrepertoire des langen 19. Jahrhunderts
DOI:
https://doi.org/10.52412/mf.2016.H4.374Abstract
Die These, dass es ab den 1870er Jahren zu einer Re-Internationalisierung des Symphonik-Repertoires kam, nachdem dieses zuvor, ab der Kanonisierung des klassischen Wiener Modells, primär von Werken deutscher Komponisten bestimmt wurde, wird am Beispiel der Musikstadt Leipzig überprüft. Leipzig bietet sich für eine repertoire- und rezeptionsgeschichtlicher Erforschung der Symphonik im Zeitalter des Nationalismus aus einer städtischen Perspektive besonders an, aufgrund des bürgerlichen Symphoniekonzertwesens, international bedeutender Einrichtungen wie Verlagen, Konservatorien und dem Gewandhaus sowie nicht zuletzt aufgrund einer kontinuierlichen und reichhaltigen Quellenüberlieferung. Primär wird das Konzertrepertoire berücksichtigt, wobei hinterfragt wird, ob das damalige Konzert- und Musikalienrepertoire überhaupt hinreichend Gelegenheit bot, um einen Prozess der (Re-)Internationalisierung wahrzunehmen und die neue Werkproduktion kennenzulernen. Weiterhin werden die Reaktionen auf das internationale Repertoire untersucht sowie als Idealfall wechselseitigen Kulturtransfers und internationaler Verflechtung hinterfragt. In die Interpretation fließen dabei auch Resultate aus Untersuchungen zu den Verlagsprogrammen und zur Presseresonanz ein, da beide Aspekte wesentliche Faktoren des ortsspezifischen Kontextes der Leipziger Konzerte bilden. Das untersuchte Werkcorpus umfasst die Zeit vom Amtsantritt Mendelssohns bis zum Ersten Weltkrieg (1835-1914) mit Werken von Komponisten, die nicht zum deutschen oder österreichischen Musikkulturraum zählen und verwendet einen weitgefassten Symphonie-Begriff. Zunächst werden strukturelle Rahmenbedingungen und ein statistischer Überblick über die Leipziger Symphoniekonzerte im 19. Jahrhundert gegeben, bevor auf die Entwicklung des Konzertrepertoires der einzelnen Einrichtungen (darunter Gewandhaus, Liszt-Verein, Musikalische Gesellschaft, Philharmonische Konzerte des Winderstein-Orchesters) näher eingegangen wird. Anschließend werden Ver- und Entflechtungen im Vergleich mit dem Leipziger Verlagsrepertoire herausgearbeitet. Schließlich wird die Rezeption des symphonischen Repertoires in der Presse erörtert. Insgesamt wird festgehalten, dass eine (Re-)Internationalisierung der Symphonik im Leipziger Konzert- und Verlagsrepertoire durchaus erkennbar ist und von der zeitgenössischen Presse auch wahrgenommen wurde. Dieser Prozess war jedoch weder das Ergebnis einer gezielten Programmstrategie noch stand er im Zentrum des Musikdiskurses, er vollzog sich eher im Hintergrund der internationalen Musikstadt Leipzig, die viele ausländische Musiker zu Studien- und Konzertaufenthalten beziehungsweise Geschäftsbeziehungen zu Verlegern bewog. Ein Kulturtransfer im engeren Sinn lässt sich demnach nicht erkennen.
bms online (Beatrix Obal)