Anspruch auf Deutungshoheit

Friedrich Blume und die musikwissenschaftliche "Rassenforschung"

Autor/innen

  • Sebastian Werr

DOI:

https://doi.org/10.52412/mf.2016.H4.376

Abstract

Das Dogma, wonach kulturelle Phänomene durch naturhafte Konstanten wie die "Rasse" ihrer Träger erklärt werden können, war keine Erfindung des nationalsozialistischen Regimes. Es fand bereits im Deutschland des 19. Jahrhunderts seinen Niederschlag in einer Vielzahl von Theorien, die die angebliche kulturelle Überlegenheit der Germanen als naturgegeben beweisen sollten. Von der akademischen Welt erfuhren die Theorien meist Ablehnung. Einige der geistigen Grundlagen des Musikschrifttums im Nationalsozialismus werden beleuchtet, wobei wegen ihrer hier nachgezeichneten Wirkung auf die damalige Fachdiskussion Friedrich Blumes Schrift "Das Rasseproblem in der Musik" (1939) als ein zentrales Dokument der musikwissenschaftlichen "Rassenforschung" gedeutet wird. Zunächst wird Blumes Veröffentlichung, die den Untertitel "Entwurf zu einer Methodologie musikwissenschaftlicher Rassenforschung" trägt, in ihrem Entstehungszusammenhang untersucht, wobei der Frage nachgegangen wird, ob es sich dabei um Propaganda oder einen "Schlag ins Gesicht der Rassenforschung" handelte. Zu diesem Zweck wird Blumes Buch im Kontext der Rassenforschung, insbesondere Richard Eichenauer ("Musik und Rasse", 1932) und Hans F.K. Günther ("Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes", 2. Auflage 1942) diskutiert, bevor vor diesem Hintergrund auf einige Thesen des Buchs genauer eingegangen wird ("Haben Tonsysteme biologische Grundlagen?", "Gregorianik", "Sonderstellung des Deutschen"). Im Zusammenhang seines Entnazifizierungsverfahrens 1947 behauptete Blume, er habe sich mit seinem Vortrag eindeutig gegen die NSDAP und ihre Rassenideologie positioniert, wobei er Unterstützung durch den Gutachter Hans Dunkelmann erhielt. Dessen Behauptung, Blumes Buch sei eine "mutige Tat" mutet angesichts einer genaueren Untersuchung des Werks allerdings geradezu absurd an. Zwar werden weder die politische Rassenfrage noch die Judenfrage direkt berührt, die Zusammenhänge zwischen Wissenschaft und Politik sind jedoch weiter zu fassen: Der musikwissenschaftliche Diskurs im Nationalsozialismus behandelte fachspezifische Themen, die in der einen oder anderen Weise mit der schon von der "völkischen Bewegung" behaupteten besonderen Stellung des germanisch-nordischen Menschen in Beziehung standen. Blumes Kritik an der bisherigen Forschung war kein Akt des Widerstands gegenüber der "Rassenforschung", sondern der Versuch, sich innerhalb des Diskurses an führender Stelle zu positionieren. Seine ambitioniert gedachte, dabei mitunter widersprüchliche und merkwürdig zwischen aus heutiger Sicht reflektierten und abseitigen Positionen oszillierenden Schrift war dazu gedacht, die Deutungshoheit auf einem karriereträchtigen Sektor zu erlangen - und dieses Ziel scheint er erreicht zu haben, wie die zeitgenössischen Reaktionen zeigen

bms online (Beatrix Obal)

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Veröffentlicht

2021-09-22

Zitationsvorschlag

Werr, S. (2021). Anspruch auf Deutungshoheit: Friedrich Blume und die musikwissenschaftliche "Rassenforschung". Die Musikforschung, 69(4), 361–379. https://doi.org/10.52412/mf.2016.H4.376