Schreibraum und Denkraum
Joseph Haydens Skizzen zur "Schöpfung"
DOI:
https://doi.org/10.52412/mf.2003.H4.731Abstract
Joseph Haydns Skizzen zur <Schöpfung> bilden das umfangreichste erhaltene Werkstattmaterial dieses Komponisten zu einem Werk. Die heute in Wien, London und New York aufbewahrten Blätter werden für die von der Autorin vorbereitete Edition der Schöpfung in der Gesamtausgabe <Joseph Haydn Werke> erstmals vollständig diplomatisch übertragen und kommentiert. Die insgesamt 35 Seiten bilden offensichtlich nur einen Teil des ursprünglichen Skizzenkorpus, gleichwohl sind darin geschlossene Arbeitseinheiten zu einzelnen Nummern überliefert, die eine systematische Untersuchung von Haydns Vorgehen beim Skizzieren erlauben. Es zeigt sich, dass Haydn die Seite bei der Skizzierung größerer musikalischer Verläufe nicht schlicht von oben nach unten beschrieb, sondern den Schreibraum entsprechend der musikalischen Form in bestimmte Bereiche gliederte und zugleich zwischen linksbündigen Verlaufskizzen und mittig platzierten Motiv- und Ausschnittsskizzen unterschied. Damit wählte er - entgegen gängiger Forschermeinung - für die Skizzierung von Vokalwerken dieselbe Methode wie für seine Sinfonien und Streichquartette. Die Verteilung der Skizzen auf den zusammengehörigen Blättern belegt zudem, dass er den für sein musikalisches Denken konstitutiven Schreib- und Denkraum einer Doppelseite auch über die Grenzen der Blatteinheiten herstellte, indem er aus zwei verschiedenen Blättern eine Doppelseite als Schreibraum konstruierte.